MdB Dr. Joe Weingarten: Bericht aus dem Bundestag

Berlin, den 16. April 2021

Liebe Genossinnen und Genossen,

der heutige Bericht aus dem Bundestags steht ganz, wie könnte es anders sein, unter dem Eindruck der Corona-Pandemie. Es ist auch für uns das alles beherrschende Thema. Dabei nehme ich die Ängste und Verunsicherungen aus unserer Bevölkerung sehr deutlich wahr. Mich erreichen viele Zuschriften und Anrufe, in denen die Bedenken deutlich werden, die gegenüber dem 4. Änderungsgesetz zum Infektionsschutzgesetz, das wir heute in erster Lesung beschlossen haben, bestehen. Das Gesetz ist nur der Anlass: Die Vielzahl der Regelungen, die unterschiedlichen Bestimmungen in einzelnen Ländern und Kreisen, die Rückschläge bei dem Impfstoffen – all das zermürbt und verunsichert viele Menschen.

Weswegen legen wir jetzt eine bundeseinheitliche Regelung vor? Die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 hat seit Beginn des Jahres 2021 durch das Auftreten von ansteckenderen Virusvarianten, insbesondere der inzwischen in Deutschland mehrheitlich für Infektionen verantwortlichen Variante B.1.1.7, zusätzlich an Dynamik gewonnen. Trotz der bereits durchgeführten Impfungen bei älteren und besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen hat sich in den letzten Wochen eine erhebliche Zunahme der Belastung im Gesundheitssystem gezeigt. Um die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und insbesondere der Intensivstationen der Krankenhäuser sicherzustellen, ist es erforderlich, eine bundesweite Grundlage zu schaffen.

Dazu sollen im Kern zwei Maßnahmen beschlossen werden: Zum einen wird eine bundesweit verbindliche Notbremse ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 eingeführt. Das bedeutet folgendes: Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen den Schwellenwert von 100, so gelten dort ab dem übernächsten Tag zusätzliche beschränkende Maßnahmen. Sofern Maßnahmen in einem Land strenger sind als in dem neuen Gesetz, so können diese weiter gelten. Sinkt die 7-Tages-Inzidenz unter den Wert von 100 Neu-infektionen pro 100.000 Einwohner an fünf aufeinander folgenden Werktagen, so tritt dort ab dem übernächsten Tag die Notbremse wieder außer Kraft.

Zudem wird die Bundesregierung ermächtigt, zur einheitlichen Festsetzung von Corona-Maßnahmen Rechtsverordnungen (mit Zustimmung des Bundesrates, also der Länder) zu erlassen. Die Rechtsverordnungen sind an die Überschreitung einer Inzidenz von 100 geknüpft. Damit werden dem Bund zusätzlich weitere Handlungsmöglichkeiten gegeben, um eine bundesweit einheitliche Steuerung des Infektionsschutzes zu gewährleisten. All dies gilt nur für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Deutschen Bundestag. Es gibt keine „Entmachtung“ der Länder.

Damit wird eine Forderung umgesetzt, die wir in den letzten Monaten immer wieder gehört haben: dass der Deutsche Bundestag solche freiheitseinschränkenden Maßnahmen beschließen soll und nicht die Konferenz der Ministerpräsident/innen. Genau das machen wir jetzt. Eine zweite Forderung war, feste Regelungen zu haben, die in ganz Deutschland einheitlich gelten und nicht in jedem Bundesland anders angewandt werden. Auch das machen wir jetzt. Es gibt auch kaum zusätzliche Regelungen, im Kern sorgen wir jetzt dafür dass das, was die Länder immer wieder beschlossen haben, jetzt auch einheitlich umgesetzt wird. Was ist der Kern der Neuregelungen?

  • Private Zusammenkünfte: Auf einen Haushalt und eine weitere Person beschränkt (einschließlich Kinder bis Vollendung 14. Lebensjahr), Ausnahme: Trauerfeiern bis 15 Personen;
  • Regionaler Lockdown bei Inzidenz über 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen;
  • Ausgangssperren von 21 bis 5 Uhr, mit Ausnahmen für medizinische Notfälle, berufliche Gründe, Gassi gehen;
  • Sport nur maximal zu zweit oder mit den Angehörigen eines Haushalts möglich;
  • alle Geschäfte müssen schließen, mit Ausnahme des Lebensmittelhandels, Apotheken, Drogerien, Tankstellen, Buchhandlungen und Gartenmärkte und Gesundheitshandwerk (Akustiker, Optiker etc.);
  • körpernahe Dienstleistungen sind untersagt. Ausgenommen medizinische, therapeutische, pflegerische oder seelsorgerische Zwecke UND Friseure;
  • ist der Inzidenzwert von 100 fünf Tage lang wieder unterschritten, können die Maßnahmen am übernächsten Tag entfallen. Liegt er drei Tage lang darüber, treten sie ab dem übernächsten Tag wieder in Kraft;
  • Schulen und Kitas dürfen bei Inzidenz unter 200 offen bleiben. Voraussetzung: Schüler/innen und Lehrpersonal werden zwei Mal wöchentlich getestet;
  • die Versammlungsfreiheit sowie Zusammenkünfte, die der Religionsausübung dienen, fallen nicht unter die Beschränkungen.

Ich habe mir die kritischen Punkte genau angesehen und sehe auch noch Ergänzungsbedarf: Individualsport muss auch weiterhin in größerem Maß (draußen) möglich sein. Nach allem was wir wissen, vermindert Freizeitsport grundsätzlich das Risiko von Corona-Erkrankungen und erhöht es nicht. Auch bei generellen Ausgangssperren ab 21:00 Uhr bin ich skeptisch. Zwar zeigen die Erfahrungen aus Hamburg, dass eine konsequente Ausgangssperre und deren Kontrolle tatsächlich illegale private Zusammenkünfte verhindern kann, aber in unseren ländlichen Gegenden macht das eher keinen Sinn. Außerdem ist es durch die Polizei und Ordnungsämter auch kaum kontrollierbar. Darüber werden wir auch in unserer Fraktion noch mal reden.

Viele Zuschriften habe ich auch zu Tests in Schulen bekommen. Ich sehe die Sorgen um Verletzungen und Ängste der Kinder, auch bei positiven Test in der Gruppe. Dennoch bin ich sicher, dass wir den Eltern, Kindern und Lehrer/innen mehr zutrauen sollten: Ich bin deshalb für verpflichtende Tests in den Schulen als Basis für Präsenzunterricht.

Die Orientierung an der 100-Inzidenz kann man natürlich mit guten Argumenten kritisieren: wenn , so wie wir das wollen, viel mehr getestet wird, entdecken wir auch viel mehr infizierte und die Zahlen gehen nach oben, Das ist doch klar. Aber diese hohe Zahl von Infizierten gibt es ja. Wir können gerne andere Kriterien mit einbeziehen, etwa die Zahl der belegten Intensivbetten. Aber das wird nichts ändern; die bedrohliche 3. Welle der Infektion ist da und wir müssen dagegen angehen.

Generell gilt, was Olaf Scholz zur Einbringung des Nachtragshaushaltes am Donnerstag gesagt hat: Wir müssen noch durchhalten. Wir haben jetzt jeden Tag und jede Woche neue Meldungen über den Impffortschritt in Deutschland, und das ist eine positive Nachricht für die Zukunft. Aber wir wissen: Die Infektionszahlen gehen weiter nach oben. Wir haben unverändert eine schwierige Situation, und deshalb müssen wir nochmals alle Kräfte zusammen nehmen. Zu den Regeln, um die es jetzt geht, gehört auch, dass wir dafür Sorge tragen, dass jetzt auch in den Unternehmen getestet wird. Ich bin froh, dass auch das auf den Weg gebracht worden ist.

Es muss uns auch darum gehen, dass wir alles dafür tun, dass die Familien in dieser Situation alle Chancen haben, mit ihr zurechtzukommen. Deshalb ist es richtig dass die Kinderkrankentage noch einmal verbessert worden sind. Auch Kinder und Jugendliche sind von dieser Pandemie ganz besonders herausgefordert. Sie brauchen unsere Unterstützung nicht nur jetzt in dieser Situation angesichts vieler Dinge, die nicht stattfinden können, da man sich nicht mit seinen Freundinnen und Freunden treffen kann, da man sich nicht in der Jugendeinrichtung treffen kann, da man nicht die Möglichkeit hat, all das zu tun, was in den Schulen sonst stattfindet. Wir müssen jetzt schon darüber nachdenken, wie wir diese Defizite in den nächsten Monaten und Jahren beseitigen.

Die Kredite, die wir jetzt aufnehmen, müssen wir ab 2026 zurückzahlen. Das wird eine erhebliche Belastung bedeuten. Ohne faire Besteuerungsregeln wird das niemals funktionieren, und deshalb müssen wir hierzulande dafür sorgen, dass es fair zugeht. Dazu brauchen wir aber auch Fortschritte auf internationaler Ebene. Deswegen ist es richtig, dass Olaf Scholz jetzt gemeinsam mit den USA Initiativen für eine globale Mindestbesteuerung angestoßen hat, damit eine faire Besteuerung der digitalen Konzerne, aber auch eine globale Mindestbesteuerung erreicht wird. Der Dumpingwettlauf bei den Steuern muss endlich zu Ende sein.

Natürlich beschäftigen uns in der SPD-Bundestagsfraktion und im gesamten Bundestag neben dem Infektionsschutz auch noch andere Themen. Ich will kurz diejenigen aus meinen politischen Schwerpunktthemen und Ausschüssen umreißen:

  • Digitalpolitik: Da haben wir uns in dieser Woche mit dem Datenschutz im Internet und insbesondere bei Facebook beschäftigt. Wir hatten im Digitalausschuss den australischen Botschafter zu Gast. Australien fährt ja einen sehr klaren Kurs gegenüber Facebook. Sowohl, was Falschmeldungen, als auch Urheberrechtsverstöße angeht. Wir haben uns das als Beispiel angesehen. Ich denke, dass wir hier zu Regularien kommen müssen, die bestimmte Standards sicherstellen. Sowohl bei der Vergütung von journalistischer Arbeit, als auch bei der Qualität auf digitalen Plattformen.
  • Verteidigungspolitik: Hier stand der Abzug der alliierten Truppen in Afghanistan und die bedrohliche Lage in der Ost-Ukraine im Mittelpunkt. Nach der Ankündigung des US-Präsidenten, die US-Truppen bis zum 11. September 2021 vollständig abzuziehen, sind auch wir in Zugzwang: die Bundeswehrkräfte in Afghanistan sind, wie alle anderen Alliierten, nicht in der Lage allein für ihre Sicherheit zu sorgen. Wir müssen also schneller raus, als geplant, voraussichtlich im August. Ich verhehle nicht, dass mich das mit Sorge erfüllt: Wir haben in Afghanistan in den letzten zwei Jahrzehnten nicht alles, aber viel erreicht. Für Demokratisierung und Wahlen, für die Rechte von Frauen und Mädchen, für Bildung und Freiheit. Das steht jetzt alles auf dem Spiel, weil ich den Taliban nicht zutraue, diese Rechte beizubehalten. Die Weltgemeinschaft hätte hier besser daran getan, dauerhaft eine Präsenz sicherzustellen.

Rund um die Ost-Ukraine und auf der Krim sehen wir eine besorgniserregende Konzentration von russischen Truppen, mit eindeutig drohendem Charakter. Hier sind alle Mittel unserer Diplomatie gefragt, um eine weitere Eskalation zu verhindern.

  • Wirtschaftspolitik: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir Unternehmen und Arbeitsplätze auch bis zum Ende der Krise mit Wirtschaftshilfen unterstützen können. Das sind also die finanziellen Grundlagen für neue und für fortgesetzte Hilfen für Gastronomen, für Hoteliers, für diejenigen, die Kultureinrichtungen betreiben, für diejenigen, die Sportveranstaltungen durchführen wollen, und für alle, die das jetzt nicht machen können wie zu anderen Zeiten. Die Wirtschaftshilfen sind wichtig, und sie werden fortgesetzt; wir arbeiten gerade intensiv daran, sie bis Ende 2021 fortzusetzen.

Ihr seht, viel Arbeit und viele offene Baustellen. Wir bleiben dran.

Herzliche Grüße und Glückauf!

Euer Joe

Dr. Joe Weingarten, MdB

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