Berlin, den 4. November 2020
Liebe Genossinnen und Genossen,
natürlich stehen wir im Moment unter dem Eindruck der US-Präsidentschaftswahlen, deren Ausgang jetzt, am Mittag danach, weiter offen ist. Allerdings zeigt sich schon jetzt durch das unerwartet enge Rennen, dass die Wählerinnen und Wähler in den USA – insbesondere in ländlichen Regionen – konservativer gewählt haben, als dies von vielen prognostiziert wurde, eine Erfahrung, die wir auch in europäischen Wahlen der letzten Jahre gemacht haben. Mir ist das auch im Blick auf die 2021 anstehende Bundestagswahl eine Lehre: Wir müssen die Belange und Sorgen der Menschen außerhalb von Großstädten mit ihren eher linken Mehrheiten verstärkt in den Blick nehmen und nachdrücklich versuchen, so auch Wählerinnen und Wähler aus der politischen Mitte zu gewinnen. Damit erreichen wir Mehrheiten.
Ansonsten stehen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie im Fokus unserer Arbeit. Ich bin mir bewusst, dass der teilweise Lockdown für viele Unternehmen, vor allem in der Gastronomie und der Hotellerie oder im Veranstaltungs- und Reisegeschäft, erhebliche Einschränkungen und Schwierigkeiten mit sich gebracht hat. Das Gleiche gilt für viele Vereine, etwa im Sport. Aber ich stehe ausdrücklich dazu, dass wir die Kontaktmöglichkeiten heruntergefahren haben. Es ging nicht anders, sonst hätten wir in zwei oder drei Wochen alles dicht machen müssen, weil die Intensivstationen der Krankenhäuser überfüllt worden wären.
Denn wir haben aus dem Lockdown im März/April auch gelernt: Entscheidend ist, dass Schulen und KiTas geöffnet bleiben. Denn die Förderung der Kinder ist grundsätzlich von hoher Bedeutung, wir dürfen keine durch Corona dauerhaft benachteiligten Jahrgänge zulassen. Es gibt auch ein wirtschaftliches Motiv: Werden sie geschlossen, können viele Eltern nicht mehr zur Arbeit gehen und dann wird es sehr schwierig für die Unternehmen. Deshalb auch an dieser Stelle ein großes Lob für die Lehrer/innen und Erzieher/innen, die viel Zeit und Engagement in Hygienekonzepte und Ablaufregeln gesteckt haben: Es wird im kommenden Winter nicht einfach werden, aber es ist ungeheuer wichtig, dass Schulen und Kindertagesstätten weiter offenbleiben.
Die Bekämpfung der Corona-Pandemie stellt auch eine Herausforderung für unser politisches System dar. Zur Bekämpfung der Pandemie wird drastisch in Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger, aber auch von Unternehmen, Vereinen und der Zivilgesellschaft eingegriffen. Die im letzten halben Jahr verordneten Beschränkungen bedürfen nicht nur fortlaufend einer klaren inhaltlichen Begründung, sie müssen auch angemessen und nachvollziehbar sein. Dies gilt vor allem in drei Punkten:
Erstens war die Vielzahl der unterschiedlichen Regelungen in den Ländern für die Bürger kaum noch nachvollziehbar. Sie war inhaltlich kaum begründbar und – siehe die Reisebeschränkungen aus Risikogebieten – teilweise nicht mehr vernünftig umsetzbar und rechtswidrig. Deswegen war es richtig, dass Bund und Länder jetzt ein einheitliches Vorgehen vereinbart haben.
Zweitens müssen wir in längeren Zeiträumen denken. Die Kurzfristigkeit der Maßnahmen, etwa in der Unterstützung von Unternehmen, macht eine vernünftige Planung nahezu unmöglich. Deswegen ist es gut, dass die wir die, etwa bei den Programmen zur Unterstützung von Unternehmen, jetzt bis Juni 2021 möglich machen. Dafür habe ich mich auch persönlich eingesetzt.
Drittens gilt: Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie. Die politischen Grundlinien werden von unmittelbar gewählten Abgeordneten festgelegt. Auch über jene der Pandemie-Politik muss der Bundestag entscheiden. Der Bundestag ist wiederum in der Pflicht, schnell und entschlossen notwendige Maßnahmen zu beschließen, falls notwendig. Ich bin froh, dass die SPD-Bundestagsfraktion in dieser Frage mehr Beteiligung einfordert.
Die jetzigen Schließungsmaßnahmen sind umso bedauerlicher, als sich unsere Wirtschaft gerade zu erholen begann: Im Oktober 2020 ist die Zahl der Arbeitslosen gegenüber September um 35.000 gesunken und die Zahl der Kurzarbeiter/ innen sank von 2,6 Millionen um rund 2 Millionen. Die 68 Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung und zur Konjunkturstützung, die wir mittlerweile beschlossen haben, wirken also.
Aber die Schließung im November erfordert neue Maßnahmen. Deswegen hat die Bundesregierung 10 Milliarden Euro im Rahmen der „außerordentlichen Wirtschaftshilfe“ für diesen Monat bereitgestellt, um den betroffenen Betrieben zu helfen. Ausgehend von den Umsätzen im November 2019 (oder einem Zwölftel des Jahresdurchschnitts von 2019) sollen kleine und mittlere Unternehmen bis zu 75 Prozent des Umsatzes erstattet bekommen, um ihnen über diesen Monat zu helfen. Die Einzelheiten dazu werden gerade erarbeitet, wir sind als Fraktion sehr engagiert dabei, dass die Einzelheiten sachgerecht gelöst werden und es nicht zu bürokratisch wird, damit die Gelder auch möglichst schnell fließen.
Zugleich arbeiten wir an einer zusätzlichen Lösung für die vielen Soloselbständigen, die beispielsweise bei Veranstaltungen oder im Kulturbereich, seit Monaten überhaupt keine Umsätze mehr machen konnten. Bislang konnten wir sie auf (verbesserte) Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II („Hartz IV“) verweisen. Das ist aber, angesichts der sicher noch bis weit in das Jahr 2021 dauernden Beschränkungen, keine dauerhafte Lösung. Ich setze mich dafür ein, dass hier eine Unterstützung unabhängig von konkret nachzuweisenden Betriebskosten (die viele Soloselbständige gar nicht haben) gefunden wird, um hier den Lebensunterhalt zu sichern.
Ein Thema, dass uns in dieser Woche im Wirtschaftsausschuss stark beschäftigt hat, ist die Zukunft unserer Automobilindustrie. Das ist ein Thema, das auch für die vielen Zulieferunternehmen im Nahe-Land und im Hunsrück, von hoher Bedeutung für die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze ist. Die Zulieferindustrie trifft sowohl der Umstieg auf die Elektromobilität, als auch der konjunkturelle Rückschlag aufgrund der Corona-Pandemie hart: 25 % Rückgang gegenüber dem Vorjahr. Wir müssen aufpassen, dass uns hier keine Industrie kaputt geht, die wir dringend brauchen und für die es kurzfristig keinen Ersatz gibt.
Völlig klar: Der mittelfristige Weg weg vom Verbrennungsmotor ist unverzichtbar und nicht aufzuhalten. Die Klimakrise verlangt das von uns. Und es gibt schon erhebliche Investitionen in neue Produktionsstätten, beispielsweise bei Tesla in Brandenburg oder VW in Sachsen. Aber es bleiben wesentliche offene Fragen im Hinblick auf die batteriebetriebene Mobilität. Vor allem bei der Ladeinfrastruktur und bei der Batteriezelleproduktion.
Um die bis 2030 erwarteten 14 bis 16 Millionen E-Fahrzeuge in Europa mit Batterien zu versorgen, brauchen wir eine Vervielfachung der Batteriezellenproduktion. Erste Vorhaben, wie beispielsweise das Opel-Peugeot-Werk in Kaiserslautern, werden da bei weitem nicht ausreichen. Aber es wäre verheerend, wenn wir da, ähnlich wie bei der Solarzellenproduktion in eine neue Abhängigkeit von asiatischen Zulieferern gerieten. Zeitgleich ist der Aufbau einer Zweitverwertungs- und Recyclingindustrie für diese Batterien notwendig, um einen echten Kreislauf zu schaffen.
Genauso bei den Ladesäulen: Wenn die Ziele der Bundesregierung für die Versorgung von Elektrofahrzeugen bis 2025 erreicht werden sollen, brauchen wir bis dahin rund eine Million neue Ladesäulen. Das sind rund tausend pro Woche. Gegenwärtig bauen wir aber durchschnittlich nur 200 wöchentlich. Das sind also noch deutliche Steigerungen notwendig. Eine deutliche Verbesserung erhofft sich die SPD-Bundestagsfraktion vom „Gebäude-Elektromobilitätsinfrastruktur-Gesetz GEIG“, das wir gerade beraten. Mit ihm wollen wir die Ladung von E-Fahrzeugen zu Hause, am Arbeitsplatz und bei Einkäufen verbessern. Dazu sollen bei unter anderem bei Wohngebäuden mit mehr als zehn Stellplätzen alle Stellplätze mit Leitungsinfrastruktur für Elektromobilität ausgestattet werden. Das alles wird aber dauern.
Und da reden wir nur von Pkw und kleinen Nutzfahrzeugen, noch nicht von Lkw und Bussen. Aus diesen Gründen und weil ich das Konzept für technisch besser halte, trete ich weiterhin dafür ein, nicht nur auf die batteriegestützte Elektromobilität zu setzen, sondern auch synthetische Kraftstoffe, E-Fuels und Wasserstoff weiter voran zu treiben. Und auch wenn wir es schaffen, dass bis 2030 die Hälfte der neu zugelassenen Fahrzeuge E-Mobile sind, werden dann immer noch 75 % der Autos in Deutschland Verbrenner sind.
Das gibt uns aber auch den Rahmen vor, in dem wir etwas für die betroffenen Unternehmen und Arbeitsplätze tun müssen: in den nächsten fünf Jahren muss es konkrete Schritte für diese, vorwiegend mittelständischen Unternehmen geben. Wir müssen ihnen Mittel geben, um in neue Produkte und Produktionsverfahren zu investieren, wir müssen die Beschäftigten schulen und qualifizieren und es muss eine Zusammenarbeit in der Region organisiert werden, denn viele Probleme können gemeinsam leichter gelöst werden. Wir sind dazu als Bundestagsfraktion in Berlin in engem Kontakt mit den Gewerkschaften IG Metall und IG BCE und ich bin auch der IG Metall in Bad Kreuznach dankbar, dass sie mich in einen entsprechenden Dialog mit den Betriebsratsvorsitzenden der betroffenen Unternehmen einbezogen hat. Mein Ziel ist, dass die Milliarden, die die Bundesregierung für den Strukturwandel in der Automobilindustrie bereitgestellt hat, nicht nur in die Ballungsräume der Automobilindustrie in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen fließen, sondern auch bei uns eingesetzt werden.
Viel Arbeit für die nächsten Monate.
Herzliche Grüße und bleibt gesund!
Dr. Joe Weingarten MdB