Berlin, den 10. Juni 2024
Liebe Genossinnen und Genossen,
die Europawahl am gestrigen Sonntag, dem 9. Juni, hat für die SPD eine schwere Niederlage gebracht, da gibt es nichts drumherum zu reden. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich euch diese Zeilen schreibe, am Montag Morgen, sind viele kommunalpolitische Ergebnisse noch nicht bekannt, weil die Auszählung noch läuft, aber ich denke, sie werden in die gleiche Richtung gehen wie die Europa-Zahlen und deshalb möchte ich Euch meine Gedanken und Einschätzungen zu dem Wahlergebnis mitteilen:
- Europa ist nach rechts gegangen und Deutschland mit. Die AfD hat trotz vieler Skandale und rechtsextremer Ausfälle mehr Stimmen bekommen, als die SPD und dazu kommt noch das BSW, die ich auch als rechten Stimmenanteil sehe.
- Diese Wahl war in Deutschland eine deutliche Protestwahl gegen die Ampel-Regierung in Berlin, das zeigen alle Nachwahlumfragen.
- Alle Kampagnen „gegen rechts“ und „gegen Hass und Hetze“ waren weitgehend wirkungslos. Die Wähler der AfD ignorieren das rechtsradikale Potential der AfD, solange diese Partei Themen anspricht, die die Menschen für richtig und wichtig halten.
- Die Jugend hat rechter gewählt als erwartet: die Stimmen-Anteile von CDU und AfD der Menschen unter 24 Jahren liegen weit vor SPD und Grünen. „Fridays for future“ war immer nur eine kleine, von den Medien gehypte Minderheit der Jugendlichen, die Sorgen der anderen haben wir offenbar gar nicht mehr wahrgenommen.
- Wir verlieren den Osten: dort ist die AfD deutlich stärkste Kraft, in Sachsen beispielsweise ist sie mit 43 % zehn Mal so stark (!) wie die SPD.
- Die Grünen haben einen dramatischen Einbruch erlitten und damit die Quittung für eine Klimaschutzpolitik ohne Rücksicht auf das von den Menschen wirtschaftlich Leistbare bekommen.
- Unbegrenzte Zuwanderung, gefühlte kriminelle Bedrohung und islamistisch begründete Gewalt stehen bei den Begründungen für die Wahlergebnisse ganz oben.
- Bundespolitische Themen dominieren die Wahlentscheidungen, die gute kommunalpolitische Arbeit Vieler ist darunter oftmals unter gegangen.
- Die CDU steht nur auf den ersten Blick stark dar: 30 % ist für sie auch kein gutes Ergebnis und wenn die gestrige Wahl eine Bundestagswahl gewesen wäre, hätte sie keinen Partner, mit dem sie ihre Politik umsetzen könnte.
Alles in allem eine hoch schwierige Lage, die uns schon deshalb umtreiben muss, weil zu erwarten ist, dass die Diskussionen und der Wahlkampf sich umgehend fortsetzen werden: von den drei Landtagswahlen im Herbst bis zur Bundestagswahl, voraussichtlich im Herbst nächsten Jahres. Was also ist zu tun? Aus meiner Sicht:
- Zunächst vor allem: Ruhe bewahren: Wir sollten jetzt nicht hektisch werden und schnelle Konsequenzen für unsere Politik oder gar Personen fordern. Als aktuell stärkste Regierungspartei muss die SPD jetzt sachlich und umsichtig reagieren. Die Leute wollen nicht, dass wir alles hinschmeißen, sondern dass wir das, was wir machen, besser tun – und vor allem auch mal gut darüber reden!
- Wir haben einen Kanzler, der wesentlich für unseren Wahlerfolg 2021 verantwortlich war, der in den letzten Jahren, bei der Corona-Bekämpfung, bei der Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine und auch bei der notwendigen Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft hin zur Klimaneutralität die richtige Richtung eingeschlagen hat. Wir stehen jetzt zu ihm.
- Aber: die Kommunikation der Regierung und die Darstellung ihrer Maßnahmen nach außen und auch das Auftreten des Bundeskanzlers müssen sich ändern. Es kommt allzu oft kühl und zu technokratisch rüber.
- Die Kernpunkte unserer Politik – Sicherheit, Frieden und Vorsorge für die Zukunft – sind richtig, aber wir müssen bessere Wege finden, um sie umzusetzen.
- Wir müssen den Menschen klar machen, dass wir ihr Leben nicht komplett umkrempeln wollen: Weder wird das Autofahren verboten, noch das eigene Haus, der Urlaub oder das Essen. Wir müssen deutlich machen, dass wir bei all dem Energie und Ressourcen sparen müssen, weil die Belastung für unsere Welt sonst zu groß wird. Aber Deutschland an die Wand zu fahren, um die Welt zu retten, ist weder beabsichtigt, noch notwendig.
- Im Mittelpunkt unserer Politik müssen die realen Interessen der Mehrheit der Menschen stehen. Gender-Belehrungen oder Cannabis-Legalisierungen sollten wir uns sehr genau überlegen. Jede und jeder muss in diesem Land frei und ungezwungen Leben können, unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder was auch immer: Aber immer nur darüber zu diskutieren, welche Gruppe noch irgendwie diskriminiert wird und rechtlich oder tatsächlich auch noch gleichgestellt werden sollte, ist übertrieben.
- Wir sollten uns mehr um die Menschen kümmern, die morgens aufstehen und zur Arbeit gehen, die Steuern zahlen, unsere Gesellschaft am Laufen halten. Auch diejenigen, die andere Menschen pflegen, Kinder erziehen oder sich sonst für die Gemeinschaft einbringen. Wer sich nicht einbringt und bloß öffentliches Geld kassiert, sollte unsere politische Unterstützung nicht haben.
- In diesem Zusammenhang ist ein zentraler Teil unserer Sozialpolitik, das Bürgergeld, völlig falsch entwickelt: Es ist der verheerende Eindruck aufgekommen, dass wir es für richtig halten, dass jemand für Nichtstun so viel Geld bekommt, dass derjenige, der für ein bisschen mehr noch arbeiten geht, blöd ist. Das müssen wir korrigieren. Jeder sollte für öffentliche Leistungen eine Gegenleistung erbringen. Wenn das statt Erwerbsarbeit zeitweise Erziehung oder Pflege ist: auch gut. Wenn das gesundheitlich nur eingeschränkt geht: einverstanden. Aber fürs Nichtstun öffentliche Unterstützung zu bekommen, darf keine sozialdemokratische Zielsetzung sein!
- Wir müssen die Zuwanderung effektiver steuern und begrenzen und diejenigen, die schon hier sind, schneller und effektiver ins Arbeitsleben integrieren. Eine zu große Zahl von Zugewanderten, die nicht arbeitet, überfordert unsere Gesellschaft. Das Asylrecht war auch niemals als Masseneinwanderungsrecht gedacht. Wenn es nicht anders geht, müssen wir dieses Recht auf diejenigen begrenzen, die tatsächlich und individuell verfolgt werden, weil sie sich in ihrem Land für Demokratie und Menschenrechte aktiv eingesetzt haben. Armut., Kriegsfolgen und Klimaprobleme sind aus meiner Sicht keine Berechtigung für eine Einwanderung nach Deutschland.
- In diesem Zusammenhang muss die angekündigte Abschiebung von straffällig gewordenen Zuwanderern jetzt auch kommen. Es darf nicht bei bloßen Ankündigungen bleiben.
- Innere und äußere Sicherheit sind den Menschen wichtig. Wir müssen Kriminalität stärker angehen, Strukturen bekämpfen. Datenschutz ist ein hohes Gut, aber er darf nicht dazu dienen, Kriminelle vor Verfolgung zu schützen.
- Klimaschutz bleibt wichtig und notwendig, aber er ist nicht mit der Brechstange durchsetzbar. Es macht keinen Sinn, unsere Autoindustrie zu ruinieren, Immobilien durch massive Belastungen für Heizung und Dämmung zu entwerten und Menschen vor finanziell unlösbare Probleme zu stellen. Ob Deutschland fünf Jahre früher oder später klimaneutral wird, ändert am Weltklima so gut wie gar nichts. Ob der Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland wettbewerbsfähig in der Welt bleibt, ist aber für unseren Wohlstand und unser Überleben als Land entscheidend.
- Wir müssen der Ukraine weiterhelfen, damit sie von Russland nicht besiegt wird. Aber das kann nicht unendlich gehen und auch nicht bis zu einem ukrainischen militärischen Sieg über Russland, den ich für ausgeschlossen halte. Wir werden Frieden dort nicht so schnell erreichen, aber möglicherweise einen Waffenstillstand und einen Kompromiss in Fragen der Grenzen der Ukraine. Dauerhaft werden uns die Menschen nicht abnehmen, dass wir jetzt schon 33 Milliarden Euro in die Unterstützung der Ukraine investiert haben, aber für zentrale Aufgaben in unserem Land zu wenig Geld da ist.
- Und schließlich: wir müssen uns mit unseren politischen Gegnern, vor allem der CDU, den Grünen und der AfD offensiv auseinandersetzen. Die Augenwischerei der CDU/CSU, die heute nahezu alles widerruft, was sie selbst mit beschlossen hat, vom Atomkraft-Ausstieg, über die Sozialgesetzgebung bis hin zur Elektromobilität, dürfen wir nicht durchgehen lassen. Und wir müssen öffentlich immer wieder deutlich machen, dass ein zurück in die Vergangenheit keine Alternative ist: die Probleme, die vor uns liegen, erfordern neue Lösungen.
- Aber eben mit Maß und Ziel: Deswegen darf auch das rigorose Vorgehen der Grünen kein Maßstab für uns sein. Das Heizungsgesetz in seiner ursprünglichen Form war verheerend für das Bild der Ampel, und auch der SPD, gerade bei sozial schwächeren Bürgerinnen und Bürgern. So etwas darf uns nicht noch einmal passieren.
- Schließlich die AfD: Das andauernde Beklagen von deren Verfassungsfeindlichkeit und Nazi-Nähe hilft am Ende alleine nichts. Wir müssen uns mit der Politik der AfD auseinandersetzen. Deutlich machen, wo sie zu Lasten der kleinen Leute geht. Aber wir dürfen ihr auch nicht das Bild zugestehen, die Interessen Deutschlands und der Deutschen zu vertreten, während wir über Hilfen für die ganze Welt nachdenken. Auch für die SPD muss gelten, dass wir zuallererst den Menschen hier verpflichtet sind.
Ihr seht, viele Aufgaben und Baustellen. Aber nichts, woran man verzweifeln müsste. Wir haben es in der Hand, mit Entschlossenheit und Weitblick für unser Land zu arbeiten und für einen Wahlerfolg bei der nächsten Bundestagswahl zu kämpfen. Verloren ist da noch lange nichts. In einem Jahr kann viel passieren.
Das sind meine Gedanken nach dem gestrigen Wahldebakel. Was haltet Ihr davon? Über zustimmende oder kritische Kommentare oder persönliche Gespräche dazu würde ich mich sehr freuen. Wir wollen ja gemeinsam eine Linie für die gute Zukunft entwickeln!
Herzliche Grüße
Euer Joe
Dr. Joe Weingarten, MdB