Berlin, den 12. März 2020
Liebe Genossinnen und Genossen,
ich hoffe, dieser Bericht erreicht Euch bei guter Gesundheit. Wir leben nun ja gerade in einer gewissen Unsicherheit, was den weiteren Fortgang der Coronavirus-Epidemie angeht und ich wünsche mir, dass möglichst vielen von Euch eine Ansteckung erspart bleibt. Den bereits Erkrankten gilt mein besonders herzlicher Gruß: gute Besserung für Euch!
Zur politischen Lage übersende ich Euch beiliegend ein Papier mit den Ergebnissen der Koalitionsgespräche vom Wochenende. Ich will Euch dazu auch meine Einschätzung geben: Grundsätzlich bin ich zufrieden damit, dass sich die Koalition handlungsfähig gezeigt hat und Maßnahmen sowohl zur konjunkturellen Stabilisierung, als auch für humanitäre Hilfen beschlossen hat. Aber ich bin nicht mit allem zufrieden.
Gut finde ich, dass die Koalition Maßnahmen zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus beschlossen hat. Insbesondere die schnelle Einführung der Möglichkeiten zum breiteren Einsatz des Kurzarbeitergeldes kann Unternehmen helfen, eine Krise auch ohne Kündigungen zu überstehen. Wir haben mit diesen Mitteln schon in der Wirtschaftskrise 2008/2009 gute Erfahrungen gemacht und konnten damals die Beschäftigung stabilisieren. Die Hilfen für die Unternehmen werden jetzt noch einmal verbessert und das Verfahren wird sehr schnell umgesetzt: Schon am Freitag dieser Woche soll der Bundestag eine entsprechende gesetzliche Regelung beschließen.
Das allein reicht aber nicht aus. Der Koalitionsbeschluss deutet ja schon an, dass es auch Liquiditätshilfen (also Finanzmittel) für besonders betroffene Unternehmen geben soll. Das gilt vorrangig für die Industrie, die ab Mitte März verstärkt in Probleme wegen fehlender Zulieferungen aus China kommen wird. Bis jetzt kommen ja noch die Schiffe mit solchen Vorprodukten und Teilelieferungen an, die bis Januar in China losgefahren sind, aber danach kann es für viele eng werden.
Wir brauchen aber auch Hilfen für die Branchen, die jetzt schon durch die vielen Absagen von Veranstaltungen getroffen werden. Ich denke da vor allem an die Reisebüros, die Konzertveranstalter, den Messebau, die ganzen Firmen rund um Veranstaltungen und Events, die Schausteller und so weiter. Wenn die Großveranstaltungen und Feste möglicherweise bis in den Sommer hinein abgesagt werden, brauchen diese Firmen dringende Hilfe, sonst überleben das viele aufgrund ihrer dünnen Kapitaldecke nicht. Ich setze mich in Berlin ausdrücklich für die Unterstützung solcher Unternehmen ein.
Und man muss eine weitere Schwachstelle hinzufügen: Es ist sehr bedauerlich, dass die Union der von Olaf Scholz vorgeschlagenen Vorziehung der Abschaffung des Solidaritätszuschlages zum 1. Juli nicht zugestimmt hat. Das wäre eine einfache Möglichkeit gewesen, den Menschen schnell eine finanzielle Erleichterung zukommen zu lassen und damit auch der flauen Konjunktur einen Schub zu geben. Es ist fast schon zynisch, dass CDU und CSU hier blockieren, nur weil wir ihrem Wunsch, der Abschaffung des Solis auch für Gut- und Bestverdienende, nicht zustimmen.
Für sehr schwach halte ich den Beschluss im Hinblick auf die Aufnahme von unbegleiteten Kindern aus griechischen Lagern. Ich bin im Vorfeld dafür eingetreten, dass Deutschland sich im europäischen Verbund bereit erklärt, 5.000 unbegleitete Kinder aus griechischen Lagern aufzunehmen, die dort unter desolaten Umständen leben müssen. Dass wir jetzt, da es auch europäische Partner gibt, die sich daran beteiligen, nur 1.000 bis 1.500 dieser Menschen aufnehmen, ist aus meiner Sicht beschämend gering. Auch hier hat die Union gebremst, wo es nur ging.
Mir ist klar, dass das Flüchtlingsthema auch in unseren Reihen umstritten ist. Ich selber habe ja auch stets für eine geregelte und staatlich kontrollierte Aufnahme von Flüchtlingen plädiert. Aber ich bin der festen Auffassung, dass sich das nicht ausschließt, dass man für eine nachdrückliche Absicherung der EU-Außengrenzen und eine detaillierte Kontrolle der Menschen, die zu uns kommen wollen, ist und dass wir zugleich immer auch die Möglichkeit haben müssen, humanitär zu helfen – auch durch die kurzfristige Aufnahme von Menschen jenseits aller geplanten Kontingente. Ich bin nicht naiv und weiß, dass es bei den unbegleiteten Minderjährigen immer auch Missbrauchsfälle geben kann, dass manche sich jünger machen, als sie sind, dass Kinder eventuell auch vorgeschickt werden, um über den Familiennachzug Andere hinterher zu holen. Aber das darf uns nicht daran hindern, denen zu helfen, die ohne unsere Hilfe in großer Not sind und die die Schwächsten in dem ganzen Fluchtgeschehen sind.
Deshalb werde ich weiter für die Aufnahme dieser Kinder einstehen, auch wenn ich in den letzten Tagen die Erfahrung machen musste, wie heftig die Gegenargumente sind, vor allem in den sozialen Medien. Aber das muss man aushalten. Wie die Union es macht, hier einzuknicken, weil das Thema eventuell von der AfD instrumentalisiert wird, halte ich für falsch. Im Gegenteil: Meine Erfahrung ist, dass man den Menschen eine differenzierte Haltung sehr wohl vermitteln kann.
Noch ein Wort zu einem anderen ebenfalls heiß diskutierten Thema: der anstehenden Wahlrechtsreform und der viel diskutierten Verkleinerung des Bundestages. Ich unterstütze diese Bemühungen, weil es einfach zu schwierig wird, wenn der Bundestag noch größer wird. Wir können nicht von den Menschen verlangen, zu sparen und sich zu beschränken, wenn die Politik das bei sich selber verweigert. Das wäre unglaubwürdig.
Der Teufel steckt im Detail. Eine Reduzierung – und damit räumliche Vergrößerung – der Wahlkreise hätte erst dann nennenswerte Effekte, wenn man auf 200 Wahlkreise hinunterginge (von jetzt 299). Dann würden aber riesige Wahlkreise entstehen und wir müssten in ganz Deutschland Wahlkreisgrenzen verändern. Das würde Jahre dauern und viel Ärger bringen. Und die Bürgernähe würde zurückgehen.
Wir dürfen als Sozialdemokraten aber nicht darauf verzichten, dass entscheidend für die Sitzverteilung im Bundestag das Zweitstimmenverhältnis bleibt. Täten wir das nicht, hätte die Union fast automatisch eine Mehrheit der Sitze, eben weil sie im Moment viel mehr Direktmandate gewinnt, als wir.
Bleibt nur der Vorschlag, den die SPD-Bundestagsfraktion gemacht hat: eine Deckelung der Mandate auf 690 und den Verzicht des Ausgleichs gewonnener Überhangmandate, sofern sie über diese Zahl hinausgehen. Das hätte zur Folge, dass einige (CDU-) Abgeordnete, auch wenn sie ihre Wahlkreise direkt gewinnen, aufgrund eines relativ schlechten Stimmergebnisses nicht in den Bundestag kämen. Ist auch nicht schön und würde wahrscheinlich vor dem Bundesverfassungsgericht beklagt werden, ist aber der Vorschlag, der die Mandatszahl am leichtesten begrenzt und uns als SPD am wenigsten schadet. Mal sehen, wie die Diskussion weitergeht.
Ansonsten wünsche ich Euch und Euren Familien in besonderer Weise Gesundheit. Last Euch von mancher Panikmache nicht verrückt machen und zeigt bitte auch den Ärztinnen und Ärzten und dem Pflegepersonal in den Praxen und Krankenhäusern den großen Respekt, den sie für Ihre Arbeit gerade jetzt verdient haben.
Herzliche Grüße
Dr. Joe Weingarten MdB