Berlin, den 1. Dezember 2020
Zukunft der Automobilindustrie und der Mobilität
Liebe Genossinnen und Genossen,
die Corona-Pandemie und der Bundeshaushalt 2021 prägen im Moment die Arbeit des Bundestages und unserer Fraktion ganz wesentlich. Aber es gibt auch anderen Themen, an denen wir dran sind. Eines davon, die Zukunft unserer Automobilindustrie und der Mobilität in unserem Land, haben wir in den letzten Tagen intensiv auch mit der IG Metall und Betriebsräten diskutiert. Davon will ich Euch heute berichten.
Die Automobil- und Zulieferindustrie ist nicht eine Branche unter vielen: sie ist der zentrale Baustein unserer Industriegesellschaft mit 832.000 Beschäftigten und einem Gesamtumsatz von rund 430 Milliarden Euro. Rund 220 Milliarden davon gehen in den Export. Aber es geht nicht nur um die Auto-Produzenten, sondern auch um 1.800 Zulieferbetriebe mit mehr als 310.000 Beschäftigten und 80 Milliarden Euro Umsatz. Dazu kommen noch die Chemieindustrie, die zu einem Drittel vom Auto abhängt, der Maschinenbau und tausende von Dienstleistungsunternehmen, die die Produktion begleiten. Insgesamt sind mehr als 2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland mit dem Auto beschäftigt.
Viele von ihnen aus den klassischen Industriebranchen haben sich auf Verbrennungsmotoren und herkömmliche Antriebstechnik spezialisiert, auf Mechanik und Hydraulik. Doch die Inhalte ändern sich, Elektromobilität und Digitalisierung nehmen an Bedeutung stark zu. Und das trifft nicht nur die Unternehmen, sondern nahezu alle Beschäftigten. Kaum ein Arbeitsplatz in dieser Industrie wird in diesem Zusammenhang unverändert bleiben. Und auf diesem Weg, der Transformation der Industrie, muss die Politik die Unternehmen und die Beschäftigten begleiten. BMW, Daimler und Volkswagen sehen sich – nach eigener Aussage – künftig eher als Elektroautobauer und Softwarekonzerne. Die verschärften EU-Klimaziele und neue Konkurrenten wie Tesla und Googles Roboterauto-Tochter Waymo lassen ihnen auch keine grundsätzliche Alternative.
Grundsätzlich ist das eine positive Entwicklung: Durch die Digitalisierung werden Industrie-Prozesse automatisiert, verknüpft und optimiert. Der neue 5G-Mobilfunkstandard wird diesen Prozess weiter beschleunigen. Er ermöglicht die Kommunikation zwischen Sensoren und schafft große Datensätze, die Aufschluss über Strukturen und Muster geben, die bislang so nicht zu erkennen waren. Allerdings kommt die Technologie, mit der die deutsche Industrieproduktion vernetzt wird, zumeist aus anderen Ländern. Die Abhängigkeit und das Potential für Sicherheitslücken steigen dementsprechend an. Eine vernetzte Welt, bestimmt von wechselseitigen Abhängigkeiten, ist indes heute schon Realität. Die Geschwindigkeit der Vernetzung und Übertragung wird in Zukunft weiter zunehmen. Um vor diesem Hintergrund die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Technologieunternehmen auch zukunftsfähig zu machen, bedarf es großer Investitionen in Bildung und der Öffnung neuer Finanzierungsmöglichkeiten für Start-Ups.
Zu diesen technologischen Entwicklungen kommen politische Entscheidungen: die Automobilindustrie in Deutschland muss sich nicht nur wandeln, weil sich die Märkte und Techniken ändern, sondern auch weil sich die politischen Rahmenbedingungen geändert haben: der Verkehrssektor und die Industrie müssen ihren Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten. Oberste Vorgabe in der Automobilindustrie ist die Dekarbonisierung, d.h. die Reduktion von Kohlenstoffdioxid-Ausstoß aus der industriellen Produktion und dem Produkt an sich, dem Auto.
Die deutschen Automobilhersteller haben diese Entwicklung zu lange ignoriert, sich jetzt aber dazu bekannt, die EU-Klimaziele für 2030 mittragen zu wollen. Das geht ohne eine drastische Veränderung der Antriebsformen beim Pkw hin zur Elektromobilität (batteriegetrieben oder per Brennstoffzelle) nicht. 2014 wurde vereinbart, das über den gesamten Flottenausstoß der Hersteller hinsichtlich des Verbrauches der Pkw zu regeln: Seit Januar 2020 zugelassene Fahrzeuge dürfen in Europa im Schnitt demnach nur noch 95 g CO2 pro Kilometer ausstoßen. Dieser Betrag wir aber auf die Gesamtflotten der Hersteller hochgerechnet, wobei größere Fahrzeuge begünstigt werden. Bleiben die Hersteller unter diesen Grenzwerten, erhalten sie Gutschriften pro Fahrzeug, liegen sie drüber, sind Strafzahlungen fällig. Deswegen setzt beispielsweise VW so auf den ID3-Verkauf: Jedes verkaufte Fahrzeug senkt den Durchschnittswert der ganzen verkauften Flotte. Der Flottengrenzwert soll nach den bisherigen Plänen bis 2030 um weitere 37,5 % abgesenkt werden.
Nun hat die EU-Kommission neue Vorschläge gemacht, die – als Euro 7-Abgasnorm – nicht mehr auf den Gesamtverbrauch aller Fahrzeuge eines Herstellers, sondern auf den Schadstoffausstoß des einzelnen Fahrzeuges abzielen sollen und an einem anderen Schadstoffwert, dem Ausstoß von Stickoxiden (NOx) ansetzen. Neuwagen sollen künftig nur noch 30 mg/km NOx ausstoßen dürfen, in einem zweiten Szenario nur noch 10 mg/km. Bislang sind es 60 mg für Benziner, 80 mg für Diesel. Kohlenmonoxid soll von 1.000 bzw. 500 mg auf 300 bzw. 100 mg reduziert werden. Zudem sollen die Testmethoden verschärft werden. Damit würde der Betrieb von Verbrennungsmotoren ab 2025 erschwert. Auch wenn das gegenwärtig erst ein Diskussionsvorschlag der EU-Kommission ist, müssen wir uns bewusst machen, welche gravierenden Auswirkungen dieser Vorschlag für die deutsche Automobilindustrie haben kann, weil er ihr noch weniger Zeit zur Umstellung einräumen würde.
Grundsätzlich ist es richtig, dass die Abgasgrenzwerte weiter verschärft werden, um über das heute geltende Maß hinaus den Schadstoffausstoß der Fahrzeuge weiter zu senken. Auch in anderen Teilen der Welt, beispielsweise im wichtigen Automarkt China, geht man diesen Weg. Außerdem lassen uns die Einsicht in die umweltpolitische Notwendigkeit sowie verbindlich geschlossene Verträge auch gar keine andere Wahl. Die verschärften Normen sind einhaltbar, auch wenn sie die Kosten pro Fahrzeug um rund 1.000 Euro erhöhen werden. Aber sie beschleunigen wohl auch den Trend zur Elektromobilität.
Das ist nicht ohne positive Perspektiven für Unternehmen und Beschäftigung: Das Marktpotenzial der deutschen Automobilhersteller aus alternativen Antrieben könnte sich nach vorliegenden Studien von aktuell 12 Milliarden Euro jährlich auf bis zu 84 Milliarden Euro im Jahr 2030 steigern. Der größte Teil wird bis dahin auf Elektroantrieben auf Batteriezellen-Basis entfallen. Die verstärkten Förderungen des Bundes für die Elektromobilität – mit Zuschüssen von bis zu 9.000 Euro pro Fahrzeug – zeigen Wirkung. Im Oktober 2020 sind rund 32.500 Zuschussanträge eingereicht worden, dreimal so viel wie im Monat davor. Insgesamt seit Juli rund 100.000 Anträge und damit mehr als im gesamten Vorjahr. Das ist, allerdings, bei rund 4,7 Millionen Kfz, die pro Jahr in Deutschland produziert werden und 3,6 Millionen die 2019 neu zugelassen wurden, noch nicht besonders viel. Da fangen die Probleme an:
Denn wir sind mitten in diesem Strukturwandel und den Problemen, die er mit sich bringt. Die ersten Reaktionen auf die Veränderungen werden schon sichtbar. Continental hat den Abbau von 13.000 Beschäftigten angekündigt, ZF Friedrichshafen von 7.500, Daimler will einen erheblichen Teil seiner Verbrennungsmotoren künftig in China fertigen lassen und BMW in England. Der Abbau von Arbeitsplätzen schreitet voran. Das ist ein Thema, von dem auch unsere Region stark betroffen ist. Denn neben den Schwerpunkten der Zulieferindustrie in Deutschland (Baden-Württemberg, Bayern, Saarland) gibt es auch im Hunsrück und an der Nahe hoch qualifizierte Zulieferbetriebe. Continental Teves in Rheinböllen oder Voestalpine Stamptec in Birkenfeld zeigen die lokale Betroffenheit, wenn Hunderte von Arbeitsplätzen verloren gehen.
Wir müssen auf diese Entwicklungen reagieren. Zunächst ist es politisch wichtig, darauf einzuwirken, dass alle Berechnungen und Vorgaben für Abgasgrenzwerte sinnvoll angesetzt werden, um dem Verbrennungsmotor eine faire Chance für den Übergang zu geben. Denn bislang wird bei der Berechnung des CO2-Flottenausstoßes von Automobilherstellern nur der Verbrauch der PWKs bei der Benutzung eingepreist. Für den tatsächlichen CO2 Ausstoß eines Autos ist aber der gesamte Herstellungsprozess relevant. Um Anreize für eine effektive Reduktion des CO2 Ausstoßes in der Automobilindustrie zu setzen, sollte sich der Flottenausstoß aus Herstellungsprozess und der Nutzung eines PKWs zusammensetzen. Nur so kann mit einer echten Technologieoffenheit der Antrieb der Zukunft gebaut werden. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass bestimmte Antriebsarten nicht von vorneherein ausgeschlossen werden.
Und wir müssen langfristig denken. Der batteriebetriebene Elektroantrieb ist eine Übergangstechnologie, die aufgrund ihres hohen Ressourcenverbrauches nicht dauerhaft für den Pkw-Antrieb geeignet ist. Das Innovationspotential der Wasserstoff-Technologie hingegen bietet große Chancen für den Entwicklungsstandort Deutschland, allerdings steckt die Wasserstofftechnologie sowohl im Anwendungs- also auch im Produktionsbereich heute noch in den Kinderschuhen – und wir haben aktuell nicht ausreichend erneuerbare Energien zur Verfügung, um daraus den für den Gesamtverkehrs benötigten Wasserstoff herzustellen. Aber in zwei oder drei Jahrzehnten ist das aus meiner Sicht die Lösung für einen klimaneutralen, ressourcenschonenden Antrieb von Fahrzeugen – weltweit. Das gilt nach meiner Einschätzung noch mehr für Schwerlast-LKWs und Busse: da ist der Batteriebetrieb aufgrund seines hohen Eigengewichtes keine Lösung und wir sollten schnellstmöglich auf Wasserstoff, Biokraftstoffe oder Flüssiggas umsteigen.
Das ist aber nur die technische Seite des Themas: Bei allen Umwälzungs- und Veränderungsprozessen in der Welt muss die soziale Frage der Kern sozialdemokratischer Perspektive bleiben. Nur durch eine sozial verträgliche Umgestaltung der deutschen und europäischen Automobilindustrie und der Wertschöpfungsketten kann unsere Gesellschaft ihre Stabilität erhalten. Wir müssen im ländlichen Raum den Menschen die Chance erhalten, auch künftig mit einem eigenen, bezahlbaren Pkw die notwendigen Wege zurück zu legen. Auch weil wir gar nicht in der Lage sind, einen flächendeckenden, umfassenden ÖPNV als Alternative aufzubauen, der, wie in den Städten, es grundsätzlich ermöglicht, ohne Auto zu leben, wenn man das will. Das muss auch für Menschen mit geringeren oder mittleren Einkommen gelten. Deswegen ist es richtig, die Zuschüsse für den Kauf von Elektrofahrzeugen durch den Bund weiter zu gewähren.
Und wir müssen weiter in die Infrastruktur verbessern. Dazu gehört der Ausbau der Ladeinfrastruktur (bis 2026 sollen Ladesäulen an drei von vier Tankstellen in Deutschland entstehen), notwendige Straßenbauprojekte und, selbstverständlich, alle Vorhaben, die den ÖPNV stärken und beispielsweise eine Verlagerung von Verkehr auf die Schiene ermöglichen. (In diesem Zusammenhang: Die Landtagskollegen Benedikt Oster, Bettina Brück und ich stehen weiterhin in gemeinsamem Kontakt zur Deutschen Bahn, den beteiligten Ministerien und Anderen, um eine Reaktivierung der Hunsrückbahn voran zu treiben, aber gleichzeitig die betroffenen Anwohner/innen zu schützen.)
Unser Anliegen als Sozialdemokratie muss es aber auch sein, die anstehenden Umstrukturierungen in der Automobilindustrie zu unterstützen und zu begleiten, um sie zu erhalten: Ich sehe keine Alternative dazu, dass Deutschland auch weiterhin eine Arbeits- und Industriegesellschaft bleibt, auch in unserer Region. Dienstleistungen, Handel, Tourismus sind wichtig und müssen zunehmen, wenn wir Arbeitsplätze und Wohlstand erhalten wollen: Aber sie können die Industrie nicht ersetzen, die sich an der Nahe und im Hunsrück herausgebildet hat.
Aber klar ist: deren Arbeit wird sich verändern: Technologischer Wandel, Digitalisierung und Anwendungen künstlicher Intelligenz werden dazu führen, dass bisherige Tätigkeiten wegfallen und völlig neue Tätigkeiten entstehen. Beschäftigte von heute dafür frühzeitig zu qualifizieren, die Arbeit von morgen zu machen, wird daher auch zur Herausforderung hinsichtlich der Ausbildungsinhalte in Schulen, Betrieben und Universitäten.
Die Unternehmen brauchen neue Produkte, die die Digitalisierung der Fahrzeuge und ihre Dekarbonisierung nachvollziehen und die Beschäftigten brauchen entsprechende Qualifizierungen, um auf die Änderungen der Produktionsbedingungen und die neuen Produkte einzugehen. Das geht nur gemeinsam mit den Betriebsräten. Wir brauchen dazu eine starke Sozialpartnerschaft, die anständige Löhne und gute Arbeitsbedingungen auch unter den sich wandelnden Voraussetzungen ermöglicht. Gleiches gilt für das Arbeitsrecht, einen wirkungsvollen Arbeitsschutz und nicht zuletzt für eine passgenaue Förderung durch Qualifizierung sowie Fort- und Weiterbildung.
Das alles ist nicht völlig neu. Einen ähnlichen Strukturwandel hatten wir auch, als in der Industrie die Robotertechnik Einzug hielt, oder in den Büros die Computer. Allerdings wird der jetzt kommende Wandel schneller kommen und deswegen müssen wir auch schneller reagieren. Mir ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, dass wir auf diese Herausforderungen nicht nur in den Ballungsräumen reagieren, sondern, in engem Kontakt mit IG Metall, der IG BCE und den Betriebsräten der betroffenen Betriebe auch für unsere Unternehmen gemeinsam Lösungen erarbeiten. Einer der geplanten Innnovationscluster des Bundes sollte an der Nahe und im Hunsrück entstehen und die Transformation gemeinsam angehen. Dann besteht auch die Chance, an Mittel aus dem „Zukunftsfonds Automobilindustrie“, den die Bundesregierung mit 2 Milliarden Euro ausstatten will, für die Region zu kommen. Dafür werde ich mich in Berlin weiter einsetzen. Hier zeigt sich ganz besonders, wie wichtig es ist, dass unsere Region im Bundestag schlagkräftig vertreten ist und die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Unternehmen vertritt.
Ich bin auf diesen Punkt sehr ausführlich eingegangen, weil ich überzeugt bin, dass das eine Frage ist, die für die wirtschaftliche Zukunft unserer Region von großer Bedeutung ist und ich aus den Reaktionen auf meine Berichte weiß, das viele von Euch gerade diese Hintergrundinformationen schätzen.
Zum Abschluss möchte ich nur kurz zwei andere Themen ansprechen: Ich bin froh, dass es meinem Team und mir gelungen ist, zwei Fördervorhaben in den Haushaltsberatungen der letzten Wochen zu verankern: Die Neuanlage des Helmut Kohl-Europaplatzes in Idar-Oberstein wird mit rund 560.000 Euro aus Mitteln des Bundes gefördert und das Mittelmosel-Museum in Traben-Trarbach bekommt 1,6 Millionen für eine Neukonzeption. Das sind schöne Erfolge und ich kann diejenigen unter Euch, die kommunalpolitische Verantwortung tragen, nur weiter ermuntern uns entsprechende Vorhaben und Projekte zu melden, die ich in Berlin unterstützen kann.
Auch unsere Präsenz in der Region steigt. Neben dem Wahlkreisbüro in Idar-Oberstein, mit dem viele von Euch in Kontakt stehen, wird es ab dem heutigen 1. Dezember ein zweites Wahlkreisbüro in der Gymnasialstraße 2 in Bad Kreuznach geben. Es wird mit Peter Frey, dem ehemaligen Bürgermeister der Verbandsgemeinde Bad Kreuznach-Land, besetzt. Darüber freue ich mich sehr! Für Terminvereinbarungen und Anliegen jeder Art meldet Euch bitte unter joe.weingarten.wk@bundestag.de.
Herzliche Grüße und passt auf Euch auf!
Dr. Joe Weingarten, MdB